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Muschelwelten: Gleaning, Rhythmus und Beziehung im Sine-Saloum Delta, Senegal

Im Sine-Saloum-Delta, Senegal, sind Muscheln allgegenwärtig. Sie spielen in alltäglichen Praktiken und Grundbedürfnissen ebenso wie in Beziehung, Erinnerung und Sinnstiftung eine Rolle. Die Bewohner des Deltas interagieren mit ihnen hauptsächlich durch gleaning, Herstellen, Konsumieren, Handeln und Gouvernanz, aber auch durch alltägliche Bewegungen, visuelle und auditive Auseinandersetzung. Darüber hinaus fördern Muscheln die Kommunikation zwischen Ahnengeistern und Menschen, und ihre Schalen werden für Straßen, Dämme, Häuser, Räucherware, Schmuck, Amulette, als Mittel zur Zukunftsvorhersage und früher auch für Töpferwaren und Medizin verwendet.

Der Schlüssel zum Fortbestand der Beziehungen zwischen Mensch und Muschel war und ist das gleaning von Muscheln in den Mangroven und auf den Sandbänken des Sine-Saloum-Deltas. Das gleaning von Muscheln hat eine lange Geschichte im Delta, erfuhr aber in den letzten Jahrzehnten auch tiefgreifende Veränderungen, die mit den sozio-politischen, ökologischen und ökonomischen Transformationen der Region zusammenhängen und diese widerspiegeln. Das Delta ist seit langer Zeit ein sogenanntes hypersalines, inverses Ästuar mit wenig Süßwasser, das ins Meer gelangt, und mit hohem Salzgehalt flussaufwärts aufgrund der Verdunstung, aber mindestens seit den 1950er Jahren hat der Regen massiv abgenommen (Pagès und Citeau 1990). Dies wiederum hatte Versalzung, Verschlammung, Absenkung, Erosion sowie Süßwasserknappheit zur Folge und führte zum Austrocknen der terrestrischen Ressourcen wie Reis oder Ölpalmen. Als Reaktion darauf begannen die Deltabewohner (vor allem Serer Niominka im nördlichen Teil und Soce Mandinka im südlichen Teil), mehr und mehr einen aquatischen Lebensstil anzunehmen, der hauptsächlich aus Fischen und Transportieren (Männer) oder Muschel-gleaning (Frauen) besteht, was heute die wichtigste weibliche Lebensunterhaltsaktivität im Delta ist. Gleichzeitig berufen sich die Deltabewohner weiterhin auf ihre "12 Berufe" jenseits des Expertentums und in die Abstimmung auf ökologische Rhythmen, und praktizieren eine gewisse Flexibilität bezüglich der Gestaltung ihrer Arbeitspraxen. So auch beim gleaning.

In meiner Dissertation zeichne ich das Werden des weiblichen Muschel-gleanings bis zu seiner heutigen Form(en) nach und untersuche seine (soziale) Organisation sowie die Phänomenologie der Praxis selbst. Ich interessiere mich für das gleaning als eine "kleine Taktik", die sozio-ökonomische Hierarchien sowohl bestätigt als auch aufhebt, indem es "marginal" bleibt und gleichzeitig einen "unsichtbaren" Überschuss schafft. Ich frage dann nach dem gleaning der Bewohner als "kleine Taktik" im Widerstand gegen die Versuche des Staates und von NGOs, gleaning nach Naturschutz- und Marktprinzipien zu regeln und zu "entwickeln" oder teilweise durch Kultivierung zu ersetzen (z. B. durch Austernparks). Die Kunst des gleanings wird so auch zu einer Kunst des nicht-domestiziert-Werdens.

Daraufhin arbeite ich heraus, wie das gleaning jenseits fester Quoten, zu produzierender Objekte, zu erfüllender Aufgaben oder strikter Zeitvorgaben, Aktion und Pause, Engagement und Auslassung, sowie Plan und situiertes Handeln verschränkt und immer partiell und graduell bleibt, aber gleichzeitig gerichtet und gekonnt ist und eher ein 'gleaning for' als eine 'gleaning of' ist. Gleaners folgen in etwa, jedoch nicht strikt, den Gezeiten und leben auch die Off-Zeiten, in denen sie nicht ins Meer gehen, sehr bewusst zur sozialen und persönlichen Reproduktion. Die gleaners sind also mit einer deltaischen Rhythmik verflochten und ko-konstituieren diese; eine Rhythmik die Menschen und Nicht-Menschen umfasst und durch Bewegung, Muster und Vielfalt Beziehung und Möglichkeit hervorbringt. Solch ein rhythmisches gleaning geht über das Produzieren oder Kultivieren hinaus, ist aber lukrativ, hilft den Menschen, eine generative Kontinuität inmitten zunehmender Volatilität zu schaffen und ko-konfiguriert die soziale Organisation im Delta und darüber hinaus.

Ausgehend vom Muschel-gleaning und in einem 'Folgen der Dinge und der Wesen' spüre ich dann weiter einigen der gegenwärtigen und vergangenen deltaischen Beziehungen zwischen Menschen, Geistern und Muscheln nach und untersuche ihre materiellen, sozio-ökonomischen sowie ihrer erfahrungsmäßigen und symbolisch-semiotischen Dimension. Ich arbeite heraus, wie der Handel mit Meeresschnecken den Frauen half, Institutionen aus den Ruinen der industriellen Fischerei aufzubauen und folge dem Handel mit Muscheln zum Verzehr und den Füßen bestimmter Meeresschnecken für Räucherwerk. Ich zeichne nach wie Muscheln für Infrastruktur genutzt wurden, und wie sie heute, in Abwesenheit des Staates, für Dämme gegen das Eindringen von Meerwasser eingesetzt werden - und wie dies wiederum mit Naturschutzbemühungen und Tourismus kollidiert. Oder ich untersuche, wie Muscheln als Vermittler zwischen Menschen und (Ahnen-)Geistern fungieren und wie ihre Schalen zum Schutz oder als Mittel zur Zukunftsvorhersage eingesetzt werden.

Meine methodologische Herangehensweise an diese vielfältigen Mensch-Geist-Muschel-Beziehungen basiert auf 'dichter Teilnahme', d.h. Lehre und Praxis, Gespräch und Beobachtung, gelebte Erfahrung und sinnliche Forschung (Spittler 2001) und wird von einer multimodalen Praxis begleitet, die Audio/Visualität und kreatives Schreiben umfasst. Dabei beziehe ich mich auch auf mehrere experimentelle künstlerische Arbeiten, die mit De- und Re-Assemblage spielen, auf der Suche nach Wegen jenseits stabiler oder ethno- und anthropozentrischer audio/visueller und textlicher Repräsentationen einer deltaischen Lebenswelt in Bewegung.

Dieses Teilprojekt wird von Sandro Simon geleitet. Er arbeitete zuvor im Tana Delta (Kenia), musste seine Forschung dort aber aus Sicherheitsgründen abbrechen.

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