Workshop I: Anthropologie von und für Flussdeltas, 23.-24. August, 2016
Wessen Deltas? Was ist amphibisches Leben? Und was ist überhaupt ein Delta?
Wir haben kürzlich einen sehr spannenden Einführungsworkshop zum Projekt geführt, der uns nicht nur viel zum Nachdenken angeregt, sondern uns auch bestätigt hat, dass wir uns mit etwas Einzigartigem beschäftigen. Unter dem Titel „Anthropologie von und für Flussdeltas“ haben wir über zwei Tage (23.-24. August 2016) diskutiert, wie solch ein anthropologischer Ansatz konzipiert werden könnte.
Die Einführung erfolgte von Franz, der die allgemeinen Ziele des DELTA-Projekts vorstellte. Er wies darauf hin, dass es drei klassische Dimensionen in der Sozialforschung gibt : Wasser/Land-Nutzung; Mobilität (von Menschen und Landschaften); und Zugehörigkeit (im Sinne von Eigentumsverhältnissen und Ortssinn). Diese Dimensionen begrenzte er, indem er zwei Schwerpunkte setzte, zum einen auf Wasser/Hydrosozialität, zum anderen auf Volatilität/Kreativität.
Unser erster Gast war Atsuro Morita von der Osaka Universität, der mit uns seine Gedanken über „Revisiting multispecies infrastructure: changing multispecies rhythms in the Chao Phraya Delta“ diskutierte. Ergänzend zu seiner kürzlich erschienenen Arbeit über schwimmenden Reis als Infrastruktur im thailändischen Chao Phraya Delta, präsentierte er seine Gedanken über Zeitlichkeit von Infrastrukturen (mit Inspirationen von Mauss Studie über Saisonalität der Inuit) und der Bedeutung von Strömungen jenseits von Wasser, wie z.B. die des Bodens, der sich in einem Delta schnell beschleunigt. Es wurde deutlich, dass die Rhythmen der verschiedenen Infrastrukturen mit unterschiedlichen möglichen multispecies-Beziehungen in einem Delta im Einklang, aber auch im Widerspruch stehen können. Wie etwa die hydrosozialen Rhythmen, die die Produktion von drei Reiskulturen pro Jahr ermöglichen, zugleich aber für die seit neuestem weit verbreiteten Reisfeld-Fischer nachteilig sind.
Nach Atsuro Morita wurde Benoit das Feld überlassen. Er stellte verschiedene historische und geographische Phasen der Infrastrukturierung des Irrawaddy-Deltas in Myanmar vor, wobei er zwischen horizontalen und vertikalen Expansionen von Infrastrukturen unterschied. Unter dem Titel “Perspectives on the modes and effects of infrastructuring the Irrawaddy Delta” hat sich sein Vortrag insbesondere mit den Rhythmusmustern auseinandergesetzt, die durch die verschiedenen Infrastrukturen erzeugt werden. Die Diskussion konzentrierte sich vor allem auf die Positionalität sozialer Akteure im Rahmen infrastruktureller Gestaltungen, auf die vermutlichen Kontroversen über Prioritäten in der Infrastrukturierung von Raumzeit und auf die erworbenen Erkenntnisse und Praktiken von Menschen, die von Infrastrukturen im Delta betroffen sind und diese beeinflussen.
Im Anschluss nahm uns Sandro mit auf eine reflexive Reise “On attending and representing flows in the Tana Delta”. Indem er uns das kenianische Tana Delta als einen fließenden Raum, sowohl in Bezug auf Wasser und Sedimenten als auch in Bezug auf instabile Bedeutungen und Beziehungen vorstellte, wägte er verschiedene Möglichkeiten ab, wie solch ein Raum verstanden werden kann, wobei er sich von semiotischen und anthropologischen Ansätzen inspirieren ließ, u.a. Kohns Arbeiten. Durch das Experimentieren mit einer Epistemologie für ein amphibisches Leben, stützte sich Sandro in seinem Vortrag auf metaphorische Redewendungen von multidirektionalen Strömungen, die Kräfte und Orte bilden und von Sedimentationen mit ihren Homologien in Lernen, Entstehung, Verlagerung, Fruchtbarkeit und Verlust.
Noras Diskussion über “Rhythm, relation and memory in the Parnaíba Delta” präsentierte das brasilianische Parnaíba Delta als ein von Volatilitäten und Rhythmen geformtes Delta, einschließlich der Gezeiten und der sich verändernden historischen ökonomischen Möglichkeiten. Nora stellte die Schwierigkeit fest, das soziale und kulturelle Leben eines Gebietes zu behandeln, das in der bisherigen veröffentlichten Literatur überwiegend aus der naturwissenschaftlichen Perspektive dargestellt wird. Fortführend beschäftigte sie sich mit der Frage nach der Untersuchung von Erinnerungen in einer Umgebung die unstetig ist und in der Bewohner als „ohne Gedächtnis“ beschrieben werden, was möglicherweise daran liegt, dass die Praktiken der Erinnerung und Vergesslichkeit nicht durch die üblichen Methoden der Gedächtnisforschung erkannt werden können. Den Vormittag abschließend diskutierten wir die Beziehung dieser Unsichtbarkeit mit der Rolle der Deltas als anarchische Räume des Anderen.
Der Nachmittag begann mit dem Vorgtrag von Franz mit dem Titel “Livelihoods, identities and hydrology: toward a holistic approach to multiple volatilities in the Mackenzie Delta, Canada”. Er skizzierte einige der sich ständig verändernden Dynamiken, die das Leben im Mackenzie Delta im vergangenen Jahrhundert charakterisiert haben und schlug vor, dass diese unterschiedlichen Dynamiken holistisch betrachtet werden können, indem die Konzentration auf die rhythmische Zeitlichkeit gerichtet wird: Auf- und Abschwung der wirtschaftlichen Entwicklung, ethnische Hybridisierung, die Wiederbelebung des Essentialismus und die saisonale und historische Transformation der Gewässer im Delta. Franz erklärte, dass der Begriff ‚Volatilität‘ – sowohl im Finanzdiskurs als auch im Klimadiskurs begründet – den konzeptionellen Raum eröffnen kann, der notwendig ist, um das Leben in einer sich wandelnden Welt zu überdenken, jenseits des gewöhnlichen Rahmens von Vulnerabilität und Resilienz, der eine Ausrichtung auf Gleichgewicht und Homöostase beibehält (wenn auch oft implizit).
Aufbauend auf den Präsentationen des Vormittags diskutierten wir in Kleingruppen mit wechselnden Mitgliedern, eine sogenannte Open Space Übung, folgende drei Fragen:
- Welche Dialoge können wir zwischen Infrastrukturen/Infrastrukturierung und Rhythmen/Zeitlichkeit identifizieren oder kreieren?
- Wie arbeitet man mit oder wie nähert man sich dem Themenkomplex Gedächtnis in unstetigen und rhythmischen Orten?
- Wenn alles fließt und zusammenhängt – Wie kategorisiert bzw. erklärt man und zieht Grenzen zwischen Ursache und Wirkung?
Nach einer mehr als einstündigen Diskussion hatten wir mindestens so viele Fragen aufgestellt, wie wir Antworten gefunden hatten. Dennoch sagte uns unser Gefühl, dass wir damit begonnen hatten, uns einigen zentralen konzeptionellen und methodologischen Herausforderungen des Projekts gestellt zu haben.
Während des restlichen Nachmittags hatten wir die Möglichkeit, über zwei weitere Forschungsprojekte mehr zu erfahren, die an der Universität zu Köln in Bezug zu Wasser, Feuchtigkeit und amphibischem Leben durchgeführt werden. Benjamin Casper, ein Doktorand in Geographie mit einem Hintergrund in Architektur, stellte seinen Vortrag mit dem Titel “The Chao Phraya Delta - Amphibious Urban Morphology” vor. Wir haben etwas über unterschiedliche Wohnformen in Bezug zu Wasser erfahren und über urbane Entwicklungen in Bangkok, mal in Resonanz mit, mal ungeachtet gegenüber der amphibiousness dieser Region.
Anschließend präsentierte uns Matian van Soest, Doktorand in Ethnologie, einen Überblick über das multidisziplinäre Projekt “GlobE - Wetlands in East Africa: Chances and Challenges of Wetland Agriculture”. Er stellte insbesondere die Forschungen in Feuchtgebieten in Ruanda, Tansania und Uganda vor, an denen er und zwei andere Ethnologen der Universität zu Köln beteiligt waren. Neben vielen anderen Dingen, erfuhren wir etwas über die Verstrickungen von der Nutzung solcher Feuchtgebiete in allerlei verschiedene Bereiche, einschließlich des Gesundheitswesen (z.B. Malaria), der Lebensmittelproduktion und in Diskussionen über Ökosystemleistungen. Wir sprachen auch über einige der Glücksmomente und Freuden sowie der Herausforderungen für Ethnologen, die in großen interdisziplinären Projekten arbeiten.
Nachdem wir uns von diesem intensiven ersten Tag noch nicht ganz erholt hatten, steuerten wir unmittelbar auf den zweiten Tag zu, der mit Tanya Richardsons (Wilfrid Laurier Universität) Vortrag zu “Sedimental Journeys: Politics, Poetics, and Place in Ukraine’s Danube Delta” begann. Sie reflektierte ihre Forschungserfahrungen im Donaudelta, v.a. in Wylkowe, oft als das ‚Venedig der Ukraine‘ genannt. Ursprünglich zielte Tanya eine Feldforschung von und über Wasser an, sie fasste jedoch zusammen, dass ihre Forschung durch Strömung blockiert und durch Avulsion entblockt wurde. Das Leben im Donaudelta dreht sich nicht nur um Wasser, sondern um eine Vielzahl anderer Dinge, einschließlich Sedimente. Indem sich Tanya dem ökopoetischen Schreiben über das Leben im Delta hingab, strukturierte sie ihren Vortrag entlang der Begriffe ‚scraping‘, ‚salt plains‘, ‚hiding and seeking‘ und ‚slowing‘. Dies führte zu einer lebhaften Diskussion über den Gebrauch und Missbrauch von wasserbezogene Metaphern und über das Potential der Ökopoesie, um eher mit neuen Ideen zu experimentieren und Empathie für Angelegenheiten der Delta-Bewohner zu schaffen, statt politische Empfehlungen zu formulieren.
Am verbleibenden Vormittag diskutierten wir über die Prozesse, durch die ein Gebiet zu einem Delta wird. Dabei griffen wir auf Atsuros Zusammenfassung des internationalen und disziplinären Forschungsprojektes “Deltas’ dealings with uncertainty: Multiple practices and knowledges of delta governance (DoUbT)” zurück, in der Atsuro eine zentrale Rolle einnimmt. Dieses Projekt verfolgt Wissensnetzwerke in der Steuerung von Deltas und zielt darauf ab, politische Empfehlungen als Teil der Forschungsergebnisse zu formulieren. Zu den gewonnen Ergebnissen gehört die Tatsache, dass das Delta als ein Konzept, sowie die hydrologischen Modelle zur Formulierung und zum wissenschaftlichen Verständnis eines Deltas in bestimmten Teilen der Welt entstanden sind und sich durch den Kolonialismus und durch internationale Entwicklungen global verbreitet haben. Die überwiegende Mehrheit der hydrologischen Modelle und der damit verbundenen Technologien kommen insbesondere aus Dänemark und den Niederlanden. Deltas müssen daher als wissenschaftliche, technologische und administrative Einheiten betrachtet werden, die als reisende Ideen und Beispiele verbreitet wurden. Dabei werden lokale Kenntnisse und Praktiken um den Begriff (und der räumlichen/hydrologischen Einheit) eines Deltas gestaltet. Westeuropäisches Fachwissen ‚deltaisiert‘ die Welt.
Dieses Erkenntnis lieferte einen wichtigen Impuls für unsere letzte Diskussion über die Gesamtfrage des Workshops: Wie sollte eine Anthropologie von und für Flussdeltas aussehen? Und was sollte sie tun? In einem Format, das von der World Café Methode inspiriert wurde, näherten wir uns der Diskussion. Wir hatten den Zeitrahmen schon längst überschritten, da beendeten wir die Diskussion mit vielen Ideen darüber, wie wir über die Fragen nachdenken können, aber nur wenige (wenn überhaupt) schlüssige Antworten auf unsere ersten Fragen. Fassen wir die drei Gedankengruppen zusammen, die uns am bedeutendsten erscheinen:
- Die Frage danach, inwieweit ‚Delta‘ ein geeigneter Bezugsrahmen ist: angesichts der speziellen Geschichte von Deltas als sozioräumliche Einheit, müssen wir uns der Erkenntnisspolitik hinter unseren Kategorien bewusst sein, wir müssen sorgfältig sein, um herauszufinden, welche Hinweise lokal von Bedeutung sind und wir müssen offen dafür sein, dass sich Deltas möglicherweise nicht herausstellen, das zu sein, was wir denken, was sie sind.
- Die Frage des Publikums oder der Öffentlichkeit: In der Formulierung einer Anthropologie mit nützlichen Auswirkungen für Delta-Bewohner müssen wir kritisch an die Identifizierung herangehen, wer die Gruppen und Personen sind, mit denen wir zusammen arbeiten und für wen diese Einsichten nützlich sein sollen. Wir müssen beispielsweise fragen, wessen Wissen wir repräsentieren, welchen Interessen dies dient, wessen Bezugsysteme wir verwenden, wessen Sprache wir benutzen etc.
- Die Frage nach amphibiousness: darin einig, dass ein bestimmendes Merkmal eines Lebens im Delta die Positionalität zwischen nass und trocken, Wasser und Land, Fluten und Dürren ist, müssen wir Wege finden, wie wir unsere ethnographische Aufmerksamkeit an die Besonderheiten von solchen amphibischen Erfahrungen anpassen, z.B. dessen Rhythmen. Der Schlüssel dazu ist der Erwerb von Netzwerken und Fertigkeiten, um die Menschen im Wasser, in ihren Booten, auf den Deichen und im Schlamm zu begleiten, im Vergleich zu den eher konventionellen Forschungsumgebungen, wie Veranden, Wohnzimmer, öffentliche Plätze und Cafés.
Nach dieser produktiven Diskussion nahmen wir im Zentrum Kölns an einer geführten Tour über Wasser in der Stadt, mit dem Titel „Aqua Colonia – Not just Eau de Cologne“ teil. Unser Guide – er war ebenso informativ wie enthusiastisch – ging mit uns vom Dom, durch die Straßen und Plätze Kölns, bis zum Rhein und half uns dabei, die nasse Geschichte Kölns wertzuschätzen: vom römischen 100-km langen Trinkwasserversorgungskanal und aufwändigen Abwassersystemen, zu mittelalterlichen Handelsrouten (z.B. Relikte) entlang des Rheins, spektakulären Überschwemmungen, der Rückgang des Grundwasserspiegels aufgrund wachsender Extraktion, nahen Minenarbeiten und der Umstrukturierung des Rheins. Daraus ist nicht zuletzt immerhin das Lokalgebräu, Kölsch, entstanden, von dem wir nach dem erfolgreichen Workshop ein, zwei Gläser genießen durften.
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