Workshop V: Produktion und Aufhebung von Unstetigkeit: Krisen deltaischer Lebenswelten im Kontext
13. - 15. Januar 2021
Workshopbericht
Der Workshop „Produktion und Aufhebung von Unstetigkeit: Krisen deltaischer Lebenswelten im Kontext“ diskutierte verschiedene – sowohl empirische als auch theoretische – Ansätze zur Unstetigkeit in Deltas und anderen Regionen, die scheinbar Krisen durchlaufen, d.h. mit tiefgreifenden sozio-materiellen Transformationen konfrontiert sind. Drei Tage lang (13.-15. Januar 2021) versammelte der Workshop Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen; Anthropolog*innen, Geograph*innen, Umweltwissenschaftler*innen sowie nicht-akademische Interessierte aus aller Welt. Die Diskussionen betonten das analytische Potential von ‚volatility‘. Durch seine mehrfachen Bedeutungen und die interpretative Flexibilität, kann volatility als Grenzkonzept (boundary concept) (Löwy 1992) betrachten werden, das für die Überbrückung von Analysen über verschiedene Forschungskontexte und Disziplinen hinweg nützlich sein kann.
13. Januar
Franz und Benoit eröffneten den Workshop mit einer kurzen Vorstellungsrunde des DELTA-Projekts und stellten dann das allgemeine Ziel und die Struktur des Workshops vor, der aus drei Hauptsitzungen bestand (einschließlich individueller Präsentationen mit Q&A und Gruppendiskussionen).
Die erste Workshop-Session mit dem Titel „Contrasting approaches to socio-environmental transformations and volatility“ umfasste vier Vorträg.
Kuntala Lahiri-Dutt (Australian National University) und Jenia Mukherjee (Indian Institute of Technology Kharagpur) sprachen in ihrem Vortrag mit dem Titel "River islands in the Delta? Chars destabilize the land-water binary" über die als ‚chars‘ bekannsten Flussinseln Südasiens. Anhand von theoretischen und empirischen Diskussionen zeigten sie, dass chars volatile Milieus sind, die sich ständig verändern, ständig entstehen und wieder verschwinden. Chars entstehen als Koproduktion von Fluss, Sedimenten, Gras und Gesellschaft in einer dialektischen Beziehung. Da sie immer in Bewegung und in ständigem Wandel sind, destabilisieren chars eine der grundlegenden Binaritäten, die von Land und Wasser. Kuntala Lahiri-Dutt und Jenia Mukherjee schlugen vor, den Ansatz des hydrosozialen Kreislaufes zu bereichern, in dem er als hydro(sediment)sozialer Kreislauf (H(S)S) konzeptualisiert wird. Indem sie die Rolle von Sedimenten in den Vordergrund stellen, betonten sie das Potential des Volatitlitäskonzepts, alternative Narrative zu generieren und sich damit von vulnerabilitätsorientierten und eher deklinativen Ansätzen zu chars absetzen.
In seinem Beitrag „Confronting uncertainties in pastoral areas: from control to car“, der aus dem Forschungsprogramm PASTRES (pastoralism, uncertainty, resilience: lessons from the margins; www.pastres.org) hervorgegangen ist, arbeitete Ian Scoones (University of Suseex) heraus, wie Pastoralisten Unsicherheiten (uncertainties) durch geschickte und sorgfältige Praktiken verhandeln. Er zeigte, wie Unsicherheiten, als Konstruktion von Wissen, Materialität, Erfahrung und Verkörperung, als wichtiger Schnittpunkt des täglichen Lebens auftauchen. Pastoralisten leben mit und von Variabilität und Volatilität durch Praktiken, die sich auf Pflege und Bewegung konzentrieren. Dies erlaubt ihnen, die räumliche und zeitliche Heterogenität ihrer Umwelt zu nutzen. Solche Praktiken hinterfragen die Standardvision von Entwicklung, die sich auf die Vorstellungen von Stabilität, Ordnung und Kontrolle stützt. Dies, so argumentiert Ian Scoones, führt uns auch zu der Frage, inwieweit diese auf Pflegepraktiken basierenden Reaktionen auch den Bewohner*innen in anderen Regionen – wie Flussdeltas – geläufig sind, wo Variabiität und Veränderung den Status quo ausmachen.
Veronica Strang (Durham University) behandelte in ihrem Vortrag mit dem Titel "The hard way: volatility and stability in the waters of the Brisbane River delta" historische Ingenieursarbeiten und Wassermanagement im Flussdelta von Brisbane. Sie beschrieb, wie infrastrukturelle Bemühungen (für Bewässerung, häusliche und industrielle Wasserversorgung, etc.) oft Versuche darstellen, die Flussschwankungen einzudämmen und zu kontrollieren, mit dem Ziel, soziale und materielle Stabilität zu erreichen. Als „hard engineering“ bezeichnet, beruhen solche Versuche der Fixierung auf einer Vision von Flussläufen als feindlich und unzuverlässig. Obwohl „hard engineering“ in der Wasserwirtschaft in Queensland nach wie vor üblich ist, spricht Veronica Strang von einer Verschiebung hin zu „soft“ oder „green engineering“, einer Arbeit mit und nicht gegen natürliche Prozesse. Dies beinhaltet die Integration natürlicher Elemente, wie z.B. Feuchtgebiete für das Regenwassermanagement. Sie argumentierte, dass offene und flexible Entwürfe, die sich an Veränderungen und Schwankungen anpassen, dazu beitragen können, nachhaltigere oder geselligere Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt zu schaffen.
Zum Schluss präsentierte Benoit Ivars (Universität zu Köln) seinen Votrag mit dem Titel „Alluvial (is)lands only last for a while: making „continuity“ along an unending ecological frontier“, der auf seiner Feldforschung im Aywyarwady Delta basiert. Er beschrieb die materielle Wandelbarkeit der Schwemmlandschaft, in der sich das Land ständig hebt oder senkt, und diskutierte die Praktiken und Strategien, die von den Inselbewohner*innen eingesetzt werden, um Kontinuität zu gewährleisten. Ein zentraler Aspekt des Lebens auf dem Schwemmland bzw. -inseln, ist die volatile Materialität von Land. Doch die historischen und kontextuellen Besonderheiten – lokale Geschichten der Landgewinnung, -zuweisung, -verteilung, -transaktion und -erosion bis hin zu den unterschiedlichen Kapazitäten auf Dorfebene, sich „neues“ Land anzueignen – sind von der Wissenschaft noch relativ unerforscht. In seinem Vortrag hinterfragt Benoit Ivars Aspekte der Positionalität und Handlungsfähigkeit der Bewohner*innen eines Flussuferdorfes, in dem er seine Feldforschung durchführte. Er zeigt, dass neu entstandenes Land keine Chancengleichheit für die Bewohner*innen darstellt, basierend auf unterschiedlichen finanziellen Kapazitäten, Risikowahrnehmungen und Strategien.
Nach den Präsentationen folgte eine allgemeine Diskussion zum Thema Volatilität, mit Nutzung von break-out Räumen. Unsere Leitfragen waren: Was können wir von deltaischen Kontexten und anderen Regionen, die scheinbar Krisen durchlaufen über den Nexus von Kontinuität und Wandel lernen? Was kann das Konzept der Volatilität zum Verständnis des sozialen Lebens in instabilen Lebensräumen beitragen, insbesondere im Vergleich zu anderen Konzepten wie Wandel/change, Ungewissheiten/uncertainties oder Gefahren/hazards? Wird die Welt in unseren Forschungskontexten volatiler, oder werden wir einfach nur mehr auf Ansätze zu Ungleichgewicht eingestimmt? Im Rahmen der Diskussion sagten die Teilnehmer*innen, dass Volatilität mehrere mögliche Interpretationen und Implikationen hat. Was bedeutet Volatilität und Veränderung in unterschiedlichen kulturellen und religiösen Kontexten? Was ist der Unterschied zwischen einer Sache, die „volatil“ oder „dynamisch“ ist? Dann wurde Volatilität im Sinne von schnell veränderbar (oder als Tendenz zur Veränderung) mit Ungewissheit/uncertainty und anderen Kategorien Risiko/risk oder Verwundbarkeit/vulnerability) kontrastiert. Die Teilnehmer*innen betonten die Beziehung zwischen Volatilität, Stabilität und Verwundbarkeit. Die Diskussion erwähnte zudem das staatliche Streben nach Ordnung und Kontrolle und wie Stabilisierungsbestrebungen die inhärenten Chancen von Variabilität/ Unbeständigkeit (patchyness) und Volatilität häufig begrenzen. Anders ausgedrückt: Stabilität kann der Störfaktor sein. Dann wurde die Multidimensionalität von Volatilität (ökologisch, sozial, ökonomisch usw.) betont, insbesondere die Möglichkeit, sie auf relationale Weise zu interpretieren, als etwas, das am Schnittpunkt verschiedener Arten und (räumlicher/zeitlicher) Skalen von Volatilität entsteht.
14. Januar
Der Donnerstag begann mit einer kurzen Reflexionsrunde über den Vortag, gefolgt von dem Vortrag von Nora Horisberger (Universität zu Köln). In ihrem Vortrag mit dem Titel „Vida sossegada: On the possibility of a peaceful life amidst volatile changes on the islands of the Parnaíba Delta, Brazil“, arbeitete sie heraus, wie sich das Leben im brasilianischen Delta in manchmal volatilen Bewegungen entfaltet, die zuweilen herausfordernd sind, aber auch Chancen mit sich bringen und helfen, eine bestimmte Lebensweise zu etablieren und zu erhalten. Sie beschreibt, wie Garnelenfischer auf den Inseln des Deltas mit den wechselnden Gezeiten ihr Glück suchen und wie viele von ihnen die Fischerei als autonom und weniger prekär und ausbeuterisch sehen als die Arbeit in den Städten. Das (Zurück)kommen auf die Inseln des Deltas verspricht ein friedliches, entspanntes Leben (vida sossegada) ohne große Sorgen und Turbulenzen. Das Deltaleben wird somit im Gegensatz gesehen zu den Erfahrungen von (städtischer) Gewalt, Marginalisierung und Abhängigkeit und ermöglicht eine selbstbestimmte Erkundung von Fülle und Reichtum, sowie Selbstbestimmung über das eigene Leben. In diesem Sinne erscheint die Unbeständigkeit der Umwelt vor allem als Möglichkeit, während das moderne (städtische) Leben und Arbeiten als unsicher und krisenhaft charakterisiert wird.
In seinem Vortrag „Cosmo-Ecological Deltas: Sophisticated Conjunctions and Ontological Politics – via the Upper Mekong“, legte Casper Bruun Jensen (Osaka Universtiy) dar, wie Sozialwissenschaftler*innen Deltaprobleme im Kontext von Modernisierung oder (post-)kolonialer Entwicklung betrachten, während die Erdsystemwissenschaft und sozial-ökologische Systeme sich auf den steigenden Wasserspiegel und Sedimenttransport konzentrieren. Letztere verstehen zwar die Wichtigkeit das „Soziale“ zu integrieren, haben aber mit dessen widerspenstigen Dimensionen zu kämpfen. Als Antwort auf diese Unzulänglichkeit plädierte Jensen für eine differenzierte Verbindung von Epistemologien, Methoden und Praktiken, um eine kosmo-ökologische Basis für die Beschäftigung mit der multidimensionalen „Deltakrise“ zu schaffen. Anhand von Forschungen über die Erneuerung von Bewässerungsinfrastrukturen im oberen Mekong Delta zeigte er, wie so genannte preks (Kanäle, die Überschwemmungsgebiete mit Flüssen verbinden) keine singulären „natürlichen Objekte“ sind, sondern vielmehr unterschiedliche ontologische Bedeutungen erhalten, je nachdem, wie sie eingesetzt werden – z.B. als Kanäle zum Leiten und Speichern von Wasser, als Wege zur Reisintensivierung, als Aspekt der Klimaanpassung oder zur Staatsbildung. Ein Ansatz, der auf der Pflege der vielfältigen sozio-natürlichen Landschaft basiert – ein kosmo-ökologischer Fokus – erlaubt es, die preks als sozio-natürliche Mosaiklandschaften anzuerkennen und zu bewerten, in denen Wasser, Biodiversität, verschiedene Formen der Landwirtschaft und Fischerei koexistieren können.
In den folgenden break-out Räumen diskutierten wir drei Leitfragen. A) Krise oder gewöhnlicher Wandel: Wie gestalten Menschen das Gewöhnliche inmitten rapider sozialer und ökologischer Veränderung? B) Welche Ressourcen haben/brauchen Menschen, um Volatilität als Chance zu begreifen? C) Unter welchen Umständen wird Volatilität zu einem Problem?
Als Antwort auf diese Fragen betonten Teilnehmer*innen zunächst die Rolle der Perspektive und der Deutungshoheit: Wer nimmt Volatilität aus welcher Position wahr und erlebt sie? Wer definiert Volatilität und wer rahmt sie als problematisch oder gut ein? Dann wurde der dualistische Entwurf von Stabilität, Normalität, Planung oder Kontrolle vs. Volatilität oder Krise in Frage gestellt und daran erinnert, dass „Ordnung“ kulturell konstituiert ist. Auch verwandte Ausdrücke wie Ungewissheit/uncertainty (mit ergebnisoffenem Potenzial), Risiko/risk (vorhersagbar und kontrollierbar) oder Variabilität/variability und Mehrdeutigkeit/ambiguity wurden ins Spiel gebracht und mit Volatilität in Beziehung gesetzt. Zudem wurde Volatilität als schneller, spektakulärer oder dramatischer sozialer und ökologischer Wandel den langsamen Dynamiken gegenübergestellt, die (auch) unberechenbar und gewalttätig sein kann.
Im Einklang äußerten sich die Teilnehmenden in der Kritik an den üblichen (betriebs-)wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und technischen Projekten, die oft darauf abzielen und versprechen, Unbeständigkeiten zu beseitigen oder sie für einige profitabel zu machen, in Wirklichkeit aber dazu neigen mehr Marginalisierung zu schaffen. Kurz gesagt, an der Börse ist Volatilität gut und profitabel, in der Natur ist Volatilität schlecht und muss kontrolliert werden (und diese Vorgehensweise zieht auch Kapital an). Als das wichtigste zugrundeliegende Paradigma identifizierten die Teilnehmenden die Übersetzung von Natur in Ressourcen und die Prämisse von Reichtum durch Besitz statt durch Beziehungen, was zu Projekten der Normierung führt und Zusammenstöße von Maßstäben erzeugt sowie die damit einhergehenden Differenzen von Ontologien. Notwendig wäre vielmehr ein scaling down und ein Lernen über die Liquidität der Moderne/modernity’s liquidity (Bauman 2000), die Formen der Flexibilität und die Unterscheidung zwischen erträglichen und unzumutbaren Wandel von unten.
Nach einer längeren Pause trafen sich die Teilnehmenden für die zweite Hälfte des Tages, die zwei Vorträge und eine weitere Diskussion beinhaltete. Thomas Hylland Eriksen (University of Oslo) nahm uns mit in seinen Vortrag über „Clashing scales and the double bind“. Ausgangspunkt für seinen Vortrag ist sein Argument, dass im überhitzten Anthropozän die Spuren menschlichen Handelns überall sind. Die Transformationen der Umwelt vollziehen sich mit einer immer größeren Geschwindigkeit. Die „große Beschleunigung“, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann, hat sich in den letzten drei Jahrzehnten weiter beschleunigt. In der neoliberalen, globalisierten Welt geht es um Beschleunigung und Upscaling. Eriksen nannte dies die Beschleunigung der Beschleunigung und sprach von einer Welt, die sich in dem Sinne überhitzt, dass viele Dinge viel schneller werden. Zur Veranschaulichung zog er zwei empirische Vignetten heran. Vignette 1 ging um das Lågen Delta, ein Ort, den eine große Kontroverse umzog, die sich seit einigen Jahren zusammenbraute und bei der es um ein Bauvorhaben einer Brücke quer durch das Naturschutzgebiet geht. Diese Vignette ist ein Beispiel dafür, wie lokale Gemeinschaften von Mächten – seien es Konzerne oder Regierungen – überrannt oder auf verschiedene Weise dominiert werden. Es ist ein Beispiel dafür, in dem Geschwindigkeit und Effizienz, scalar gaps zwischen Planung und Lebenswelten und Undurchdringlichkeit von Entscheidungen (bürokratisches Labyrinth) zum Tragen kommen. Geschwindigkeit, Effizienz und Wachstum sind der Schlüssel, um die wirtschaftlichen und politischen Prozesse zu verstehen, die sich auf die Gemeinschaften auswirken, in den Deltas und anderswo, erklärte Eriksen. Er stellte die Frage in den Raum: Was ist es, was ihr in eurem Leben anhäufen wollt? Ist es Geld? Ist es Effizienz? Oder ist „das gute Leben“ etwas anderes? Die andere Vignette befasste sich mit einer Naturkatastrophe, einem großen Erdrutsch am 30. Dezember 2020, wo ein Wohngebiet zerstört wurde, der bestimmte Merkmale mit den bisher vorgestellten ethnographischen Beispielen teilte und Fragen zu scale, Flexibilität und Wachstum aufwarf.
Nachdem die Fragen rund um Volatilität und Undurchdringlichkeit in der Q&A vertieft wurden, gingen wir zum nächsten Vortrag über. Franz Krause (Universität zu Köln) gab uns einen dichten Einblick in „Valued volatility: uncertain flux as an asset in the Mackenzie Delta, Canada“.
Franz Krauses Präsentation verknüpfte einige der Aspekte, die wir bereits in den vorherigen Sitzungen besprochen hatten auf eine sehr anschauliche Art. In seinem Vortrag bezog er sich auf einige seiner Arbeiten mit den Gwich’in und Inuvialuit Bewohner*innen im Mackenzie Delta, um zu veranschaulichen, dass Volatilität eine wertvolle Bereicherung und Vorteil sein kann und nicht eine besser zu vermeidende Belastung. Franz stützte seine Argumentation auf Forschungen, die darauf hinweisen, dass weder Ökologien noch soziale Beziehungen durch Gleichgewichte konstituiert werden und dass Ungewissheit/uncertainty eine Schlüsseldimension des sozialen und ökologischen Lebens ist. Die Unbeständigkeit/volatility im Mackenzie Delta ist ein erbittertes Hindernis für staatliches Agieren und wirtschaftliche Entwicklung, die Bewohner*innen von Aklavik scheinen jedoch die volatile Dynamik auf den Arbeitsmärkten, beim Glücksspiel, beim Alkoholkonsum und bei der Jagd vor allem als Chance, wenn auch als unsichere, und als Lebensweise zu kennen, die es zu verteidigen lohnt. Franz resümiert, dass eine volatile Welt nur in Bezug auf die fixen und gemaßregelten Bestrebungen der Kolonialregierung problematisch wird. Volatilität im Mackenzie Delta zu schätzen bedeutet, Kontrolle und Disziplin zu vermeiden, um eine immer neu entstehende und nicht abschätzbare Welt schätzen zu können. In der anschließenden Fragerunde ging Krause näher auf den Begriff volatility ein und darauf, ob und wie sich die Bedeutung und Verwendung von volatility für ihn im Laufe der Forschung verändert hat.
Um den Zeitplan einzuhalten, trafen wir uns nach einer verkürzten Pause von 20 Minuten wieder bei Zoom für den Open Space, ein Diskussionsformat, das ein freies Brainstorming von Fragen erlaubte, die wir gerne diskutiert haben wollten. Wir formulierten und sammelten zunächst aufkommende Frage auf dem Padlet, die dann kommentiert und Verbindungen hergestellt werden konnten. Dann haben wir zu hervorstechenden Themen Cluster gebildet, die jeweils in verschiedenen break-out Räumen diskutiert wurden.
Fragen, die sich als interessant herausstellten, berührten hauptsächlich Fragen zu Definition und Kategorisierung von Volatilität:
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Die sprachliche Definition von Volatilitäten. Sollte es Singular oder Plural sein? Versuchen wir tatsächlich, einen neuen Begriff zu schaffen?
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Die Definition von scales; global/lokal, Stabilität/Bewegung; kurzzeitig/langfristig
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Wie wird der Begriff je nach Akteur oder Perspektive definiert? Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen akademischen Disziplinen; zwischen Politikern oder Menschen vor Ort?
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Wer definiert volatile Gegebenheiten?
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Und versuchen wir durch den Akt der Definition auf so eine Weise etwas zu stabilisieren, die wir eigentlich im Kern kritisieren?
Um 17:30 endete ein langer aber anregender Tag.
15. Januar
Die letzte Workshop Session wurde auf den europäischen Nachmittag gelegt, um die Teilnahme von Kolleg*innen aus afrikanischen, europäischen sowie nord- und südamerikanischen Ländern zu ermöglichen. Die „Warm-up“-Runde in kleinen Break-out Räumen, die den bisherigen Verlauf des Workshops reflektierte und einen Ausblick auf das restliche Programm gab, machte deutlich, dass für viele Teilnehmer*innen die Diskussion über Volatilität als analytischer Begriff in der Anthropologie sehr produktiv war. Einige Teilnehmer*innen waren beispielsweise besorgt, dass eine unkritische Verwendung von Volatilität Prozesse der Entrechtung und Prekarisierung entpolitisieren könnte und somit einer neoliberale Vereinnahmung ausgesetzt sein könnte, ähnlich wie es mit dem Konzept der „Resilienz“ geschehen war.
Die Sitzung „New Approaches to Volatility“ umfasste drei Vorträge. Nikhil Anand (Universtiy of Pennsylvania) diskutierte das die schwierige Frage von „Perfect Pollution? On Sewage Blooms in the Anthroposea“. Ausgehend von seiner aktuellen Forschung in Mumbai, ein küstennaher, feuchter Ort, sowohl in der Stadt als auch in ihrem urbanen Meer (z.B. https://www.inhabitedsea.org/), sprach er über das Fischen vor der Küste Mumbais als Auseinandersetzung mit dem urbanen Metabolismus, wo Hitze, Abwasser und industrielle Verschmutzung die Ökologie des Meeres und die Fänge der Fischer prägten. Zum Beispiel waren die verschmutzten Gewässer sehr attraktiv für Flamingos und Hummer, während sie andere Meeresbewohner verdrängt hatten. In diesen volatilen Umwelten, so argumentiert Nikhil Anand, wird die „nahe Zukunft“ – und damit viel Raum für politisches Handeln – evakuiert, da es keinen Bezug zu einer festen Baseline gibt, die wiederhergestellt, bewahrt oder auf der aufgebaut werden könnte.
Sandro Simon (Universität zu Köln) sprach über „Presence and Absence in Volatile Mollsuc Liferworlds“, basierend auf seiner Feldforschung im Sine-Saloum Delta und einer Ausstellung, an der er kürzlich beteiligt war. Er beschrieb sowohl die gegenwärtigen Praktiken des Sammelns/gleaning von Weichtieren als auch die historische und aktuelle Nutzung der reichlich vorhandenen Muschelhügen im Delta und erörterte die vielfältigen Möglichkeiten, wie Mollusken in das Leben im Delta eingebunden sind. Da Klimawandel, Naturschutz, industrielle Fischerei und andere Prozesse viele der Möglichkeiten verdrängt haben, die den Bewohner*innen des Deltas eine breite Lebensgrundlage boten, stellen Mollusken eine verlässliche Ressource dar, auf die man zurückgreifen kann, und der Rhythmus des Sammelns und Verarbeitens gibt dem unbeständigen Delta ein Gefühl von Ordnung. Sandro Simons stimmungsvolle Präsentation dienten nicht nur als Illustration der Argumentation, sondern präsentierten mit dem Fading von Bildern ineinander und dem Einsatz von Split-Screen Videos auch ihre eigenen Argumente.
Zum Schluss präsentierte Kirsten Keller (Aarhus University and Universtiy of California Santa Cruz) ihren Vortrag mit dem Titel „Mussels and Megaprojects: Making Subsistence in Jakarta“. Sie bewegte sich von panoramaartigen Satellitenansichten Jakartas und den strukturellen Ursachen von Landabsenkungen und Überschwemmungen bis hin zu detaillierteren Beschreibungen des Lebens in einer informellen Küstensiedlung, die aufgrund einer intensivierten Produktion von Grünmuscheln eher wächst als sinkt. Damit veranschaulichte die Präsentation, wie Landabsenkung und andere wasserbezogene Krisen, einschließlich Verschmutzung und Überschwemmungen, Produkte einer (post-)kolonialen Geosozialität sind, die Ideen und Hierarchien über Hygiene und Hierarchie materialisiert. Kirsten Keller betonte, dass Landschaftsstrukturen und anhaltende Ungleichheiten ineinander verwoben sind und dass die Volatilität in den informellen Siedlungen die allgemeine Marginalisierung und Prekarisierung ihrer Bewohner*innen widerspiegelt.
Nach einer Pause trafen wir uns wieder zu einer abschließenden Diskussionsrunde in Kleingruppen, die sich auf Fragen zu Erkenntnissen des Workshops und wie diese weitergeführt werden können konzentrierte. Unsere Leitfragen waren: Gibt es neue Fragen, die wir über sozio-materielle Transformationen und Krisen in Bezug auf Aspekte der Handlungsfähigkeit, Ungleichheit oder Gerechtigkeit stellen können? Wie können wir ethnographische Beschreibungen von Wandel und Volatilität besser integrieren, um Krisensituationen zu rekontextualisieren und darzustellen? Und gibt es alternative Begrifflichkeiten zu Volatilität, die Muster von Transformationen in Deltas und anderen als krisenhaft beschriebene Umgebungen erklären können? Die Diskussionen berührten eine Vielzahl miteinander verbundener Themen, einschließlich der Aufmerksamkeit für die Handlungsfähigkeit der Menschen, die durch eine Volatilitätsrhetorik ermöglicht wird. Dadurch kann der Blick auf Aktivitäten gerichtet werden, die nicht sofort als handlungsstark erkannt werden, einschließlich geduldigem Warten und Vorbereiten. Wenn Unbestimmtheit und Flexibilität produktiv sein können, werden sie möglicherweise von denselben Projekten verdrängt, die auf Stabilisierung volatiler Dynamiken abzielen. Stabilisierung und Ordnung können daher wesentlicher Bestandteil des politischen Handelns sein, können aber auch die Fähigkeit, eine unbeständige Welt zu bewohnen, beeinträchtigen. Wenn man Volatilität als etwas identifiziert, das in den Reibungen zwischen einer dynamischen Welt und den Versuchen, sie zu befrieden, entsteht, kann man sich der Volatilität als einem Grenzobjekt nähern, das die verschiedenen Implikationen des Begriffs in unterschiedlichen Bereichen – ökologisch, persönlich, materiell, sozial – produktiv überbrückt.
Der Workshop wurde großzügig vom Global South Studies Center (GSSC) der Universität zu Köln unterstützt. Vom GSSC halfen Christine Rath und Meike Meerpohl freundlicherweise bei der Organisation der Veranstaltung.
Quellenangabe
Bauman, Z. 2000. Liquid Modernity. Cambridge: Polity.
Löwy, I. 1992. The strength of loose concepts boundary concepts, federative experimental strategies and disciplinary growth: The case of immunology. History of Science 30:371–396